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die zufriedene fliege

Die kleine Fliege war glücklich mit ihrem neuen Leben. Es war ein einfaches aber befriedigendes Leben. Nie musste sie Hunger leiden, kannte weder Furcht noch Langeweile.
Seit sie wegen eines verletzten Flügels nicht mehr fliegen konnte, war ein endloser schwarzer Weg zum Zentrum ihres Lebens geworden. In jeder freien Minute - wenn sie gerade nicht aß oder ausruhte - wanderte sie diesen Weg entlang. Er war angenehm weich, sehr rutschfest und roch gut.
Das Schönste an der Straße war die Routine. Das kleine Insekt liebte Routine. Auf eine ebene, waagerechte Strecke folgte stets ein Abschnitt, auf dem man senkrecht nach oben steigen musste. Das nächste Stück war kopfüber zu bewältigen. Und nach einem senkrecht nach unten verlaufenden Stück ging es wieder horizontal voran.
Regelmäßig zählte die Fliege ihre Schritte, um sich von der perfekten Konstruktion dieses Weges zu überzeugen. Sie bemühte sich dann stets, gleichmäßige Schritte zu machen und zählte jeweils um eins weiter, wenn ihr Lieblingsbein, das linke mittlere, aufsetzte. So waren alle waagrechten Strecken etwa 1660, jede der senkrechten um die 1320 Schritte lang.
Doch Routine kann man nur genießen, soviel war auch der Fliege klar, wenn es hin und wieder Abwechslung gab oder auch mal kleinere Abenteuer zu bestehen waren. Manchmal bot das Essen diese nötige Abwechslung. Zumeist klebten auf dem schwarzen Weg kleine Köstlichkeiten. Ausscheidungen anderer Tiere, fettige Nahrungsbröckchen oder angetrocknete Zuckerlösungen mit verschiedenen Geschmacksrichtungen: Eine gelbliche, die recht erfrischend schmeckte; eine eher bräunliche, die fast schon bitter war; und unzählige andere.
Wenn es gerade satt war, genoss das kleine Insekt es manchmal, einfach nur über ihre mit Futter beklebte Straße zu trippeln und mit ihren Füßen all die köstlichen Leckereien zu riechen und schmecken.
Doch ab und zu musste sich das winzige Tier auch auf das Nichts wagen.
Das Nichts war die große, sich ins Unendliche ausbreitende Fläche rechts vom schwarzen Weg. Und obwohl sie gar nicht vorhanden war, konnte man sehr gut auf dieser Fläche laufen. Es war wie Fliegen. Mit dem Unterschied, dass man die Flügel nicht rühren musste. Einfach nur tapfer weiterlaufen.
Das Herz der kleinen Fliege klopfte schneller und heftiger, sobald sie das Nichts betrat. Sie tat es langsam und konzentriert, das Ziel, ein besonders großes, oder verlockend duftendes Stück Nahrung, das irgendwo auf der Ebene des Nichts schwebte, stets fest im Blick. Hatte sie das Objekt ihrer Begierde erreicht, verdaut und eingesaugt, krabbelte sie flotter und unkonzentrierter wieder zurück zu ihrer Straße.
Eine weitere Abwechslung in der vertrauten Routine, waren die Großen Tiere. Allein die Köpfe dieser gigantischen Geschöpfe waren fast 40-mal so groß wie die kleine Fliege, und doch empfand sie keinerlei Furcht. Die Großen Tiere schienen sie gar nicht zu bemerken, waren offensichtlich meist mit sich selbst beschäftigt. Sie bewegten ihre riesigen Münder, wobei sie angenehme Vibrationen in der Luft erzeugten, fraßen oder rieben sich graue Kästen an die Seite ihres Kopfes. Sehr oft starrten die Großen Tiere allerdings einfach nur auf das Nichts und zuckten dabei seltsam mit ihren feuchten Augen.
Doch die kleine Fliege wunderte sich darüber nicht weiter. So wie sie sich auch nicht über die gleichmäßige, ewig wiederkehrende Abfolge von senkrechten und waagrechten Strecken auf ihrem Weg wunderte. Nicht ein einziges Mal dachte sie daran, umzukehren. Nie hinterfragte sie ihr Dasein. Niemals dachte sie an Artgenossen oder fühlte sich einsam. Sie hatte ja alles, was sie zu ihrer Zufriedenheit brauchte: Stets genug zu essen und eine tägliche Routine mit kleinen Variationen gegen die Langeweile.

Am Fenster eines Zuges saß, in Fahrtrichtung, ein junges Mädchen, kaute gedankenverloren und lustlos an einer Brezel. Sie fühlte sich einsam und zutiefst verzweifelt. Ihre Gefühle kreisten um ihre verirrte Liebe; um all die unterschiedlichen Lieben auf der Welt, die in irgendwelche Richtungen führten, nur nicht in die richtige.
Während diese freudlosen Gedanken ihr Hirn blockierten, kein wahres Denken zuließen, betrachtete sie eine kleine Fliege, die auf der schwarzen Gummieinfassung des Fensters krabbelte. Das winzige Tier lief gerade auf der Unterkante der Einfassung entlang, gegen die Fahrtrichtung, quasi auf das Mädchen zu. Gefangen in ihrem Karussell aus immer wiederkehrenden Gefühlen und Gedanken beobachtete das Mädchen unbewusst, wie das Tier an ihr vorbei lief. Unwillkürlich hob sie den Arm, bewegte die Hand langsam auf die Fliege zu und zerquetschte das winzige Lebewesen mit einem leichten Druck ihres Zeigefingers.

polilla aug5

 

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